Im Zusammenhang mit Komet Ison wird der Begriff Jahrhundert-Komet geradezu inflationär verwendet. Aber was soll man sich unter einem solchen vorzustellen?
Wörtlich genommen würde man als Jahrhundert-Komet wohl der eindrucksvollsten Schweifstern eines Jahrhunderts bezeichnen, also Objekte wie C/1577 V1 (Brahe), C/1680 V1 (Kirch), C/1743 X1 (Klinkenberg), C/1861 J1 (Tebbutt) und C/1910 A1 (Großer Januarkomet), um nur die letzten 5 Jahrhunderte zu berücksichtigen. Logischerweise kann man eine derartige Einstufung erst nach Ende eines solchen Zeitraums treffen. Selbst wenn Ison noch eindrucksvoller als C/2006 P1 (McNaught) in Erscheinung treten sollte, könnten also erst unsere Nachfahren in 87 Jahren entscheiden, ob er der Jahrhundert-Komet des 21. Jh. war. Unter Jahrhundert-Komet könnte man sich aber auch einen Schweifstern vorstellen, der ganz besonders herausragend ist, also viel eindrucksvoller als ein normaler Großer Komet wie es z.B. C/1969 Y1 (Bennett), C/1975 V1 (West) oder auch C/1995 O1 (Hale-Bopp) waren. Nach dieser Definition, die natürlich reichlich vage ist, hätte es im 19. Jh. mit C/1843 D1 (Tageslichtkomet), C/1861 J1 (Tebbutt) und C/1882 R1 (Großer Septemberkomet) binnen 40 Jahren gleich 3 Jahrhundert-Kometen gegeben, im 20. Jh. gar keinen und im noch jungen 21. Jh. mit C/2006 P1 (McNaught) bereits einen.
C/1910 A1 (Großer Januarkomet), der "Größte" Schweifstern des 20. Jahrhunderts. Bildnachweis: s.o.
Allerdings ist der Begriff weder in dem einen noch in dem anderen Sinne jemals verwendet worden, denn es handelt sich dabei um eine recht neue Kreation der Massenmedien, die wohl erstmals 1973 im Zusammenhang mit Komet Kohoutek (C/1973 E1) auftauchte. Bekanntlich entwickelte sich genannter Schweifstern dann allerdings nicht zu einem sonderlich herausragenden Objekt, ebenso wie der nicht ganz so extrem hochgepuschte, aber noch enttäuschendere Austin (C/1989 X1). Als nächster "Jahrhundert-Komet" wurde C/1995 O1 (Hale-Bopp) in den Medien gehandelt, welcher den hohen Erwartungen durchaus gerecht wurde. Als dann mit C/2006 P1 (McNaught) ein Objekt erschien, das wirklich jedem Superlativ entsprach, schwieg die Presse allerdings weitgehend. Auch Hyakutake (C/1996 B2) blieben zweifelhafte Jubelorgien erspart, obwohl er letztlich eindrucksvoller als Hale-Bopp am Himmel stand. Dafür wird bei Ison intensiver als je zuvor ein "Jahrhundert-Komet" angekündigt.
Komet Kohoutek (C/1973 E1) , der erste als "Jahrhundert-Komet" hochgejubelte Schweifstern am 11.01.1974.
Bildnachweis: NASA.
Die vorstehende Aufzählung macht deutlich, was einen sogenannten Jahrhundert-Kometen im Mediensinn auszeichnet: Er wird ziemlich lange vor seiner Perihel-Passage entdeckt und verspricht nach Aussagen der Fachwissenschaft sehr hell zu werden. Ohne dass der ominöse Begriff dabei bemüht wurde, hatten daher bereits C/1940 T1 (Cunningham), der ähnlich "floppte" wie Kohoutek, und C/1956 R1 (Arend-Roland), welcher eindrucksvoll auftrat, im Vorfeld eine intensive Medienpropaganda ausgelöst. "Überraschungs-Kometen" wie C/1957 P1 (Mrkos), C/1996 B2 (Hyakutake) und ganz besonders C/1975 V1 (West) führten dagegen pressetechnisch mehr oder weniger ein Schattendasein. Um einen Jahrhundert-Kometen propagandistisch "aufzubauen", benötigen die Medien - und das gilt auch für das Internet - also ausreichend viel Zeit. Die gibt es natürlich in noch weit größerem Ausmaß bei den Erscheinungen von 1P/Halley. Im Jahr 1910 ging der Medienrummel dennoch erst so richtig los, nachdem Wissenschaftler ein zusätzliches Stichwort gegeben hatten: Blausäure im Kometenschweif, durch den die Erde ziehen würde. Als Halley 1986 wiederkehrte, war von vorneherein klar, dass eine bescheidene Vorstellung zu erwarten war. Dafür warf das Thema "Raumsonden zum Kometen" genügend und diesmal seriösen Stoff für Presse und TV ab. Abgesehen von der im Vorfeld bereits unzweifelhaft feststehenden Helligkeitsentwicklung fügt sich Halley nahtlos in die Reihe der Medien-Kometen von Kohoutek, über Hale-Bopp bis Ison ein. In allen 4 Fällen erschienen mehrere bis zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zum Thema. Daneben hatten sie einen starken Einfluss auf die populäre Kultur und riefen nebenbei allerlei Spökenkieker, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker und Sektierer auf den Plan. Alle 4 Schweifsterne weckten aber auch bei vielen Menschen das Interesse an der Astronomie. Und alle - Ison wird nach derzeitigem Kenntnisstand wohl keine Ausnahme machen - entsprachen, als sie endlich in Erdnähe gelangt waren, letztlich nicht dem, was man sich nach den beiden eingangs gegebenen "logischen" Definitionen unter einem Jahrhundert-Kometen mit über den halben Himmel reichendem Schweif vorstellt. Und doch waren sie bezüglich ihrer Wirkung auf die breite Öffentlichkeit astronomische Jahrhundert-Ereignisse, allenfalls vergleichbar mit der Totalen Sonnenfinsternis vom 11.08.1999.
Komet Cunningham (C/1940 R1). Bildnachweis:
University of Chicago Photographic Archive, [apf6-02097], Special
Collections Research Center, University of Chicago Library. Aufgenommen
mit dem 24-Zoll-Reflektor des Yerkes Observatory am 02.12.1940 von
George van Biesbroeck.
Für die Wissenschaft waren bzw. sind die 4 genannten Schweifsterne mit Sicherheit "Jahrhundert-Kometen". Natürlich wurden auch an anderen, z.T. sehr plötzlich aufgetauchten Kometen wegweisende Erkenntnisse gewonnen. Erinnert sei nur an die Entdeckung der Wasserstoff-Koma bei C/1969 T1 (Tago-Sato-Kosaka), an die Dokumentation der Kernteilungen von C/1975 V1 (West), den Nachweis von Röntgenstrahlung bei C/1996 B2 (Hyakutake), die Entdeckung eines Schweifs aus Eisenatomen bei C/2006 P1 (McNaught) oder die intensive Beobachtung der Sonnenpassage und des Zerfalls von C/2011 W3 (Lovejoy). Doch Kohoutek, Halley, Hale-Bopp und Ison hatten bzw. haben für Astronomen (und da geht es ihnen nicht anders als den Medien) den Vorteil einer langen Vorlaufzeit, welche die weltweite koordinierte Planung von Beobachtungs-Campagnen erlaubt. Entsprechend ist der wissenschaftliche Output in solchen Fällen besonders hoch. Dies gilt auch für D/1993 F2 (Shoemaker-Levy 9), welcher ein Jahr vor seiner Kollision mit dem Jupiter entdeckt worden war. Dieses Objekt war mit bloßem Auge zu keinem Zeitpunkt sichtbar, fand aber doch - und dies war wiederum den Medien zu verdanken - ein großes Interesse in der breiten Öffentlichkeit. Der nächste wissenschaftliche "Jahrhundert-Komet" nach Ison ist übrigens bereits in Sicht. Es handelt sich C/2013 A1 (Siding-Spring), welcher im Oktober 2014 dem Planeten Mars bis auf etwa 130000 km nahe kommen wird. Dann wird sich dank der dort stationierten Raumfahrzeuge vielleicht ein astronomischer Jahrhundert-Traum erfüllen: der direkte Blick auf den Kern eines langperiodischen Kometen, der sich seit Anbeginn des Sonnensystems kaum verändert hat.
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