Mittwoch, 31. Juli 2013

Komet Ison - The lost chapter

Die Erstellung eines Buch-Manuskripts zieht sich über Wochen oder Monate hin. Schreibt man zu einem aktuellen Thema, so können in diesem Zeitraum zusätzliche Aspekte oder gar neue wissenschaftliche Erkenntmisse auftauchen, die eine Umarbeitung erforderlich machen. So ist es mit bei meinem gerade erschienenen Buch "Komet Ison - Ein Jahrhundert-Komet?" ergangen. Während der Bearbeitung, die sich von Mitte Februar bis Mitte Juli diesen Jahres erstreckte, rückte mehr und mehr der Aspekt der "Sungrazer  und Sunskirter" in den Vordergrund. Anfangs waren lediglich Kapitel zu den beiden Sungrazern C/1680 V1 (Kirch) und C/2011 W3 (Lovejoy) vorgesehen. Doch irgendwann erschien es sinnvoll, auch andere sonnennahe Kometen, in erster Linie diejenigen der Kreutzgruppe, zumindest kurz zu beschreiben. Andererseits hatte ich bereits im März ein Kapitel zu C/2006 P1 (McNaught) vorbereitet, bei dem im Hinblick auf Ison der Aspekt der Vorwärtsstreuung des Sonnenlichts eine Rolle spielte. Mehr und mehr wurde mir dann aber klar, dass dies doch eher ein Randaspekt ist und so fiel die Entscheidung, den Abschnitt "Kometen-Geschichte" ganz auf die Sungrazer und Sunskirter auszurichten. Auch im Hinblick auf die Seitenzahl des Buches, die nicht zu sehr ausufern sollte, musste das Kapitel über McNaught weichen - es wurde zum "Lost Chapter". Damit es nicht wirklich verloren geht, habe ich die relevanten Litertaurstellen hinzugefügt und es - im gleichen Layout wie das Buch - in ein pdf umgewandelt. Dieses steht zum kostenlosen Download unter http://www.komet-ison.de/mcnaught.pdf (179 kb) zur Verfügung.

Montag, 29. Juli 2013

Jahrhundert-Kometen

Im Zusammenhang mit Komet Ison wird der Begriff  Jahrhundert-Komet geradezu inflationär verwendet. Aber was soll man sich unter einem solchen vorzustellen?

Wörtlich genommen würde man als Jahrhundert-Komet wohl der eindrucksvollsten Schweifstern eines Jahrhunderts bezeichnen, also Objekte wie C/1577 V1 (Brahe), C/1680 V1 (Kirch), C/1743 X1 (Klinkenberg), C/1861 J1 (Tebbutt) und C/1910 A1 (Großer Januarkomet), um nur die letzten 5 Jahrhunderte zu berücksichtigen. Logischerweise kann man eine derartige Einstufung erst nach Ende eines solchen Zeitraums treffen. Selbst wenn Ison noch eindrucksvoller als C/2006 P1 (McNaught) in Erscheinung treten sollte, könnten  also erst unsere Nachfahren in 87 Jahren entscheiden, ob er der Jahrhundert-Komet des 21. Jh. war. Unter Jahrhundert-Komet könnte man sich aber auch einen Schweifstern vorstellen, der ganz besonders herausragend ist, also viel eindrucksvoller als ein normaler Großer Komet wie es z.B. C/1969 Y1 (Bennett), C/1975 V1 (West) oder auch C/1995 O1 (Hale-Bopp) waren. Nach dieser Definition, die  natürlich reichlich vage ist, hätte es im 19. Jh. mit C/1843 D1 (Tageslichtkomet), C/1861 J1 (Tebbutt) und C/1882 R1 (Großer Septemberkomet) binnen 40 Jahren gleich 3 Jahrhundert-Kometen gegeben, im 20. Jh. gar keinen und im noch jungen 21. Jh. mit C/2006 P1 (McNaught) bereits einen. 

C/1910 A1 (Großer Januarkomet), der "Größte" Schweifstern des 20. Jahrhunderts. Bildnachweis: s.o.


Allerdings ist der Begriff weder in dem einen noch in dem anderen Sinne jemals verwendet worden, denn es handelt sich dabei um eine recht neue Kreation der Massenmedien, die wohl erstmals 1973 im Zusammenhang mit Komet Kohoutek (C/1973 E1) auftauchte. Bekanntlich entwickelte sich genannter Schweifstern dann allerdings nicht zu einem sonderlich herausragenden Objekt, ebenso wie der nicht ganz so extrem hochgepuschte, aber noch enttäuschendere Austin (C/1989 X1). Als nächster "Jahrhundert-Komet" wurde C/1995 O1 (Hale-Bopp) in den Medien gehandelt, welcher den hohen Erwartungen durchaus gerecht wurde. Als dann mit C/2006 P1 (McNaught) ein Objekt erschien, das  wirklich jedem Superlativ entsprach, schwieg die Presse allerdings weitgehend. Auch Hyakutake (C/1996 B2) blieben zweifelhafte Jubelorgien erspart, obwohl er letztlich eindrucksvoller als Hale-Bopp am Himmel stand. Dafür wird bei Ison intensiver als je zuvor ein "Jahrhundert-Komet" angekündigt.

Komet Kohoutek (C/1973 E1) , der erste als "Jahrhundert-Komet" hochgejubelte Schweifstern am 11.01.1974. 
Bildnachweis:  NASA.


Die vorstehende Aufzählung macht deutlich, was einen sogenannten Jahrhundert-Kometen im Mediensinn auszeichnet: Er wird ziemlich lange vor seiner Perihel-Passage entdeckt und verspricht nach Aussagen der Fachwissenschaft sehr hell zu werden. Ohne dass der ominöse Begriff dabei bemüht wurde, hatten daher bereits C/1940 T1 (Cunningham), der ähnlich "floppte" wie Kohoutek, und C/1956 R1 (Arend-Roland), welcher eindrucksvoll auftrat, im Vorfeld eine intensive Medienpropaganda ausgelöst. "Überraschungs-Kometen" wie C/1957 P1 (Mrkos), C/1996 B2 (Hyakutake) und ganz besonders C/1975 V1 (West) führten dagegen pressetechnisch mehr oder weniger ein Schattendasein. Um einen Jahrhundert-Kometen propagandistisch "aufzubauen", benötigen die Medien - und das gilt auch für das Internet - also ausreichend viel Zeit. Die gibt es natürlich in noch weit größerem Ausmaß bei den Erscheinungen von 1P/Halley. Im Jahr 1910 ging der Medienrummel dennoch erst so richtig los, nachdem Wissenschaftler ein zusätzliches Stichwort gegeben hatten: Blausäure im Kometenschweif, durch den die Erde ziehen würde. Als Halley 1986 wiederkehrte, war von vorneherein klar, dass eine bescheidene Vorstellung zu erwarten war. Dafür warf das Thema "Raumsonden zum Kometen" genügend und diesmal seriösen Stoff für Presse und TV ab. Abgesehen von der im Vorfeld bereits unzweifelhaft feststehenden Helligkeitsentwicklung fügt sich Halley nahtlos in die Reihe der Medien-Kometen von Kohoutek, über Hale-Bopp bis Ison  ein. In allen 4 Fällen erschienen mehrere bis zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zum Thema. Daneben hatten sie einen starken Einfluss auf die populäre Kultur und riefen nebenbei allerlei Spökenkieker, Esoteriker,  Verschwörungstheoretiker und Sektierer auf den Plan. Alle 4 Schweifsterne weckten aber auch bei vielen Menschen das Interesse an der Astronomie. Und alle - Ison wird nach derzeitigem Kenntnisstand wohl keine Ausnahme machen - entsprachen, als sie endlich in Erdnähe gelangt waren, letztlich nicht dem, was man sich nach den beiden eingangs gegebenen "logischen" Definitionen unter einem Jahrhundert-Kometen mit über den halben Himmel reichendem Schweif vorstellt. Und doch waren sie bezüglich ihrer Wirkung auf die breite Öffentlichkeit astronomische Jahrhundert-Ereignisse, allenfalls vergleichbar mit der Totalen Sonnenfinsternis vom 11.08.1999.

Komet Cunningham (C/1940 R1). Bildnachweis: University of Chicago Photographic Archive, [apf6-02097], Special Collections Research Center, University of Chicago Library. Aufgenommen mit dem 24-Zoll-Reflektor des Yerkes Observatory am 02.12.1940 von George van Biesbroeck.

Für die Wissenschaft waren bzw. sind die 4 genannten Schweifsterne mit Sicherheit "Jahrhundert-Kometen". Natürlich wurden auch an anderen, z.T. sehr plötzlich aufgetauchten Kometen wegweisende Erkenntnisse gewonnen. Erinnert sei nur an die Entdeckung der Wasserstoff-Koma bei C/1969 T1 (Tago-Sato-Kosaka), an die Dokumentation der Kernteilungen von C/1975 V1 (West), den Nachweis von Röntgenstrahlung bei C/1996 B2 (Hyakutake), die Entdeckung eines Schweifs aus Eisenatomen bei C/2006 P1 (McNaught) oder die intensive Beobachtung der Sonnenpassage und des Zerfalls von C/2011 W3 (Lovejoy). Doch Kohoutek, Halley, Hale-Bopp und Ison hatten bzw. haben für Astronomen (und da geht es ihnen nicht anders als den Medien) den Vorteil einer langen Vorlaufzeit, welche die weltweite koordinierte Planung von Beobachtungs-Campagnen erlaubt. Entsprechend ist der wissenschaftliche Output in solchen Fällen besonders hoch. Dies gilt auch für D/1993 F2 (Shoemaker-Levy 9), welcher ein Jahr vor seiner Kollision mit dem Jupiter entdeckt worden war. Dieses Objekt war mit bloßem Auge zu keinem Zeitpunkt sichtbar, fand aber doch - und dies war wiederum den Medien zu verdanken - ein großes Interesse in der breiten Öffentlichkeit. Der nächste wissenschaftliche "Jahrhundert-Komet" nach Ison ist übrigens bereits in Sicht. Es handelt sich C/2013 A1 (Siding-Spring), welcher im Oktober 2014 dem Planeten Mars bis auf etwa 130000 km nahe kommen wird. Dann wird sich dank der dort stationierten Raumfahrzeuge vielleicht ein astronomischer Jahrhundert-Traum erfüllen: der direkte Blick auf den Kern eines langperiodischen Kometen, der sich seit Anbeginn  des Sonnensystems kaum verändert hat.




Sonntag, 28. Juli 2013

Was ist ein Großer Komet?

Helle, auffällige Schweifsterne werden oft als Große Kometen bezeichnet, ohne dass näher erläutert wird, was darunter genau zu verstehen ist. In der Literatur scheint dieser Begriff erstmals im Zusammenhang mit dem hellen Sungrazer C/1843 D1 in größerem Umfang verwendet worden zu sein. Dies geschah wohl aus der Verlegenheit heraus, dass es keinen benennbaren Entdecker gab - der Komet wurde Anfang Februar 1843 von zahlreichen Laien erstmals gesichtet. Die überaus imposante Erscheinung führte dann zu der Hilfsbezeichnung Großer Komet. Daneben wurden auch Großer Märzkomet oder Tageslichtkomet verwendet. Im weiteren Verlauf des 19. Jh. und auch im 20. Jh. wurden weitere helle Schweifsterne von vielen Personen gleichzeitig entdeckt und gingen mit Namen wie Großer Südkomet oder Großer Januarkomet in die Annalen ein. Später erlangten dann auch rückwirkend bedeutende historische Schweifsterne die Bezeichnung Großer Komet. Selbst Objekte, welche offiziell einen Entdeckernamen tragen wie C/1858 L1 (Donati), C/1861 J1 (Tebbutt), C/1975 V1 (West) oder C/1995 O1 (Hale-Bopp), erhielten inoffiziell diesen Beinamen. 

C/1843 D1 war vielleicht der erste Schweifstern, welcher explizit und weit verbreitet als Großer Komet bezeichnet wurde. Er war der bislang impo­santeste Vertreter der Kreutz-Gruppe und gehört zu den eindrucksvollsten Kometenerscheinungen der Geschichte. Sein Schweif maß etwa 300 Millionen Kilo­meter; am irdischen Himmel erreichte er eine Länge von 70 Grad. Bildnachweis: Chambers (1909, Plate XIV).

Eine "offizielle" Definition was ein Großer Komet ist, existiert jedoch nicht. Laut Wikipedia handelt es sich dabei um eine Erscheinung, die auch einem zufälligen Betrachter des Nachthimmels auffällt. Kelly Beattie schlug kürzlich (s. http://tech.groups.yahoo.com/group/comets-ml/message/21184) eine ähnliche Definition vor:  "A 'great' comet is one bright and obvious enough to catch the naked-eye attention of a casual skywatcher who didn't know about it beforehand." Diese simple Definition trifft es eigentlich ganz gut, auch wenn zum Beispiel der Bewohner eines engen Tales u.U. gar nicht die Möglichkeit hat, solch eine Zufallsbeobachtung zu machen - viele helle Kometen sind im Optimum ihrer Entwicklung nur horizontnah in der Dämmerung zu sehen. Auch die Lichtverschmutzung in Großstädten ist ein Faktor. Komet Hyakutake (C/1996 B2) konnte unter der Lichtglocke eines Ballungsraums anders als Hale-Bopp (C/1995 O1)  durchaus einem zufälligen Beobachter entgehen. Wer jedoch beide Schweifsterne unter einem einigermaßen dunklen Himmel sah, wird bestätigen, dass Hyakutake wesentlich eindrucksvoller erschien als Hale-Bopp. Noch im 19. Jh. war es freilich so, dass mangels störendem Kunstlichts Stadtbewohner Kometen genauso gut beobachten konnten wie Landbewohner. Wir sollten o.g. Definition also  den Zusatz "unter einem einigermaßen streulichtfreien Himmel" hinzufügen. Nun gab es in der Geschichte auch beachtliche Kometen, die nur am Taghimmel oder in der hellen Dämmerung sichtbar waren. Als extremes Beispiel sei C/1927 X1 (Skjellerup-Maristany) genannt, einer der hellsten jemals beobachteten Schweifsterne, der sich aber auf Grund seiner Bahngeometrie nicht aus der Dämmerung lösen konnte. In seinem Fall musste ein Beobachter schon genau  in die passende Himmelsrichtung (und dies in einem engen täglichen Zeitfenster) schauen, um den Kometen ohne Vorwissen von seiner Existenz aufzufinden. Wenn wir solche Fälle auch berücksichtigen, kommen wir zu einer vielleicht ganz brauchbaren Definition:

Ein Großer Komet ist ein Schweifstern, der selbst einem völlig ahnungslosen Laien mit bloßem Auge  unter einem einigermaßen streulichtfreien Himmel beim Blick in die richtige Himmelsregion sofort auffällt.

Samstag, 27. Juli 2013

Ison und der Große Komet von 1680 - nicht verwandt oder doch?

Bereits wenige Tage nach der Entdeckung von Komet Ison fiel auf, dass seine Bahn derjenigen des Großen Kometen von 1680 (Komet Kirch, C/1680 V1) sehr ähnlich ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies purer Zufall ist, wurde als so gering eingeschätzt, dass eine Verwandschaft der beiden Schweifsterne fast zwingend gegeben sein müsste. Das Ison mit Kirch identisch ist, konnte freilich sofort ausgeschlossen werden. Bereits Edmond Halley errechnete auf Grund der für die damaligen Zeit zahlreichen und genauen Positionsangaben für Komet Kirch eine Umlaufzeit von 575 Jahren. Spätere Mathematiker, die sich der Daten annahmen, fanden eine noch weitaus längere Orbitalperiode. Der heute akzeptierte Wert liegt bei etwa 9300 Jahren. Demnach ist C/1680 V1 der Sonne bereits in grauer Vorzeit mindestens einmal begegnet, wobei sich sein Kern geteilt haben könnte. Kirch und Ison wären somit Fragmente eines einstigen größeren Kometen. Dass zwischen den Periheldaten der beiden Tochterkometen 333 Jahre liegen, lässt sich mit dem Impuls erklären, den sie bei ihrer Trennung erhalten haben. So ist man sich fast sicher, dass die Kometen C/1882 R1 (Großer Septemberkomet) und C/1965 S1 (Ikeya-Seki) durch Teilung eines gemeinsamen Vorläufers im frühen 12. Jh. entstanden sind. Schon minimale Unterschiede in der Exzentrizität der Ellipsenbahnen können zu Unterschieden von Jahrzehnten oder Jahrhunderten in der Umlaufzeit führen. Im Fall von Kirch/Ison läge die Aufspaltung des Mutterkometen noch viel weiter zurück, u.U. Zehntausende von Jahren, was auch die etwas unterschiedlichen Ausrichtungen der langen Halbachsen ihrer Bahnen erklären könnte. Jedenfalls bezweifelte bis Februar 2013 kaum jemand, dass Ison und Kirch Fragmente eines gemeinsamen Vorläufers sind.

Steckbrief des Kometen Kirch (in Klammern Angaben für Komet Ison)
Entdeckung: 14.11.1680
Perihel: 18.12.1680, 0.006 AE (28.11.2013, 0.012 AE)
Erdnähe: 01.12.1680, 0.42 AE (27.12.2013, 0.43 AE)
Neigung der Bahn zur Erdbahn: 61 Grad (62 Grad)
Excentrität der Bahn: 0.999986 (1.000004)
Umlaufszeit um die Sonne: 9356 Jahre (unbekannt)
Mit bloßem Auge sichtbar: 20.11.1680 – 15.02.1681 (11/2013 – 1/2014)
Max. Helligkeit: -10 mag (-6 mag?)
Max. Schweiflänge: 90 Grad (45 Grad?)


Bahnen der Kometen Kirch (Symbole) und Ison (Linie) durch das innere Sonnensystem. Eingezeichnet sind die Positionen der Planeten am 01.12.2013. Erstellt mit RedShift 4.

Je mehr präzise astrometrische Daten von Komet Ison vorlagen, umso genauer konnte seine Bahn berechnet werden. Dadurch wurde im Frühjahr 2013 immer mehr zur Gewissheit, dass deren Exzentrität bei 1 liegt, sich also mathematisch nicht sicher von einer offenen Hyperbelbahn unterscheiden lässt. Dies wiederum lässt nur einen Schluss zu: Ison kommt auf direktem Weg aus der Oortschen Wolke, d.h. seine Umlaufzeit beträgt hundertausende oder sogar einige Millionen Jahre. Auch der inzwischen durch Beobachtungen belegte hohe Anteil leicht flüchtiger Gase im Kometenkern spricht für einen Erstbesuch im inneren Sonnensystem. Zur Erinnerung: Komet Kirchs Umlaufzeit wurde zu etwa 9300 Jahre berechnet, er muss demnach bereits vor 1680 mindestens einmal in Sonnenähe gewesen sein. Damit schien nun klar, dass die Ähnlichkeit von Isons und Kirchs Bahnelementen doch nur ein Zufall ist, unwahrscheinlich wie ein hoher Lottogewinn, aber eben im Bereich des Möglichen.

Aber ist eine Verwandschaft von Ison und Kirch tatsächlich unwahrscheinlicher als eine zufällige Ähnlichkeit der Bahnen?
Schauen wir uns noch einmal Komet Kirch an. Seine Umlaufzeit wurde zu etwa 9300 Jahren berechnet, wobei die meisten der zu Grunde liegenden Positionsbestimmungen nach dem Periheldurchgang gemacht wurden, als der Komet am dunklen Nachthimmel stand und man genügend Vergleichssterne sehen konnte. Verglichen mit heutigen Methoden waren diese astrometrischen Daten recht unpräzise. Entsprechend sind auch alle damit angestellten Bahnberechnungen für Kirch mit geringen Ungenauigkeiten behaftet. Selbst wenn diese sich bei der Berechnung der Bahnexcentrizität nur auf hintere Nachkommastellen auswirken, kann dadurch bei einer hoch excentrischen Ellipsenbahn die berechnete von der tatsächlichen Umlaufzeit um zehntausende von Jahren abweichen. Dies bedeutet, dass die Orbitalperiode von Komet Kirch statt 9300 Jahren z.B. auch 93000 Jahre betragen könnte. Berechnet wurde zudem mehr oder weniger die Umlaufzeit des Kometen wie sie jetzt NACH dem Periheldurchgang vom 18.12.1680 ist. Davor kann sie durchaus wesentlich länger gewesen sein; es ist keineswegs auszuschließen, dass C/1680 V1 wie Ison ein Erstbesucher aus der Oortschen Wolke war. Es gibt genügend Beispiele für drastische Änderungen der Umlaufzeit langperiodischer Kometen nach ihrem Besuch im inneren Sonnensystem. Verantwortlich dafür sind sowohl die Schwerkraft der großen Planeten als auch nicht-gravitative Einflüsse durch die Ausgasungsprozesse des Kometenkerns. So gelangte C/1956 R1 (Arend-Roland) nach der Perihelpassage auf eine Hyperbel-Bahn, wurde also aus dem Sonnensystem hinaus katapultiert. Bei Komet Kohoutek (C/1973 E1) halbierte sich die Umlaufzeit von ca. 150000 auf etwa 75000 Jahre, bei Hyakutake (C/1996 B2) stieg sie von etwa 17000 auf ca. 70000 Jahre an.

Wenn Komet Kirch genau wie Ison ein Erstbesucher im inneren Sonnensystem war, ist dies an sich noch kein Beleg für einen gemeinsamen Ursprungskörper. Ganz im Gegenteil, denn eine Kernteilung tritt doch, so steht es in einschlägigen Lehrbüchern, durch die Hitze und Schwerkraftwirkung der Sonne ein. Dies ist allerdings nur bedingt zutreffend. In den letzten Jahren durchgeführten Studien zum kaskadierenden Zerfall von Kometenkernen belegen, dass solche Prozesse überall entlang  der Bahn  eines Schweifsterns geschehen können. Nach dem Modell der hierarchischen Akkretion sind Kometenkerne extrem fragile Gebilde, deren Untereinheiten u.U. nur durch die eigene sehr schwache Schwerkraft zusammen gehalten werden und durchaus spontan, ohne ersichtliche Ursache auseinanderdriften können. Es spricht daher überhaupt nichts dagegen, dass die Kometen Kirch und Ison durch Zerfall eines gemeinsamen Mutterkometen irgendwann auf seinem hunderttausende Jahre dauernden Weg von der Oortschen Wolke zur Sonne entstanden sind.

Letztlich können wir also nicht klären, ob Ison und Kirch verwandt sind. Der Ausschluss dieser Möglichkeit auf Grund der berechneten Umlaufzeiten beider Schweifsterne scheint aber etwas kurz gegriffen.

Quellen:
- http://tech.groups.yahoo.com/group/comets-ml/message/19851
- http://tech.groups.yahoo.com/group/comets-ml/message/20256
- http://tech.groups.yahoo.com/group/comets-ml/message/19877
- http://www.isoncampaign.org/potw-jul22
- http://ssd.jpl.nasa.gov/sbdb.cgi
- Sekanina, Zdenek & Chodas, Paul W. (2007): Fragmentation hierarchy of bright sungrazing comets and the birth and orbital evolution of the Kreutz system. II. The case for cascading fragmentation. The Astrophysical Journal 663, 657–676.